V
on tief unten in der trockenen Erde flüsterte eine verlorene Stimme: »Downnn-grounnnd.«Aus der Finsternis rollte, raschelte, flatterte
etwas heran.
Ein langer Streifen Mumienstoff fuhr schnalzend hinaus ins Licht
der Sonne.
Es war, als hätte die Grabkammer die alte, trockene Zunge
herausgestreckt, die jetzt zu ihren Füßen lag.
Die Jungen starrten sie ungläubig an. Der Leinenstreifen war
Hunderte Meter lang und konnte sie, wenn sie wollten,
hinunterführen in die geheimnisvollen Tiefen unter der ägyptischen
Wüste.
Zitternd streckte Tom Skelitt den Fuß aus und berührte mit der
Schuhspitze den vergilbten Stoff.
Ein Windstoß kam aus der Grabkammer und seufzte: »Jaaa …«
»Na, dann …« sagte Tom.
Er trat auf den Leinenstreifen, balancierte darauf wie auf einem
Seil und verschwand in der Finsternis der Grabkammer.
»Jaaa …!« raunte der Wind aus den Tiefen. »Ihr alle. Kommt. Der
Nächste. Der Nächste. Und noch einer und noch einer.
Schnell.«
Die Jungen rannten im Dunkeln den Weg aus Stoff hinab.
»Paßt auf, Jungs! Hier gibt es Mord! Mord!«
Die Säulen, an denen die Jungen vorbeikamen, erwachten zum Leben.
Bilder erzitterten und begannen sich zu bewegen.
Auf jeder Säule war die goldene Sonne.
Doch es war eine Sonne mit Armen und Beinen, die fest in
Mumienbinden eingewickelt waren.
»Mord!«
Ein dunkles Etwas versetzte der Sonne einen schrecklichen
Schlag.
Die Sonne starb. Ihr Feuer erstarb.
Die Jungen rannten in der Finsternis dahin.
Ja, dachte Tom im Laufen, klar, ich meine, irgendwie stirbt die
Sonne jeden Abend. Wenn ich schlafen gehe, frage ich mich immer, ob
sie wohl wiederkommt. Oder wird sie morgen früh immer noch tot
sein?
Die Jungen rannten. Auf neuen Säulen direkt vor ihnen erschien die
Sonne wieder, brach aus der Finsternis hervor.
Klasse! dachte Tom. Genau! Sonnenaufgang!
Doch ebenso schnell wurde die Sonne wieder ermordet. Auf jeder
Säule starb sie im Herbst und wurde in kaltem Winter
begraben.
Mitte Dezember, dachte Tom. Da denke ich oft: Die Sonne kommt nie
zurück! Jetzt bleibt es immer Winter. Diesmal ist die Sonne
wirklich tot!
Doch als die Jungen am Ende des langen Ganges langsamer wurden,
wurde die Sonne wiedergeboren. Der Frühling kam mit goldenen
Hörnern. Licht erfüllte den Gang mit reinem Feuer.
An allen Wänden stand brennend der seltsame Gott. Sein Gesicht war
mit goldenen Bändern umwickelt und brannte in einem großen Feuer
des Triumphs.
»Ha! Ich weiß, wer das ist!« keuchte Henry-Hank. »Den hab ich mal
in einem Film mit so gruseligen ägyptischen Mumien
gesehen.«
»Osiris«, sagte Tom.
»Jaaa«, flüsterte Downgrounds Stimme aus den Tiefen der Grabkammer.
»Lektion Nummer eins über Halloween. Osiris, Sohn der Erde und des
Himmels, wird jede Nacht von seinem Bruder Dunkelheit getötet.
Osiris wird vom Herbst ermordet, von seinem eigenen, dunklen
Fleisch und Blut.
So ist es in jedem Land, Jungs. Jedes Land hat sein eigenes
Totenfest, und das hat etwas mit den Jahreszeiten zu tun. Mit
Knochen und Totenschädeln, Jungs, mit Skeletten und Geistern. Hier
in Ägypten seht ihr den Tod von Osiris, dem König der Toten. Gebt
gut acht!«
Die Jungen gaben acht.
Sie waren an ein riesiges Loch in der unterirdischen Höhle
gekommen, und durch dieses Loch konnten sie ein ägyptisches Dorf
sehen, wo nun, bei Sonnenuntergang, Speisen in irdenen und
kupfernen Schüsseln auf Türschwellen und Veranden gestellt
wurden.
»Für die heimkehrenden Geister«, flüsterte Downground irgendwo in
den Schatten.
Öllämpchen wurden an Fassaden befestigt, und ihre feinen
Rauchfähnchen stiegen im Dämmerlicht auf wie ruhelose
Geister.
Man konnte fast sehen, wie die Geister durch die gepflasterten
Straßen glitten.
Die Schatten neigten sich, bogen sich von der verlorenen Sonne im
Westen weg und versuchten, in die Häuser zu gelangen.
Doch die warmen Speisen, die auf den Veranden verdampften, zogen
die Schatten so in ihren Bann, daß sie sie tanzend
umkreisten.
Ein leiser Geruch nach Räucherwerk und Mumienstaub trieb hinauf zu
den Jungen, die dieses uralte Halloweenfest sahen, wo man nicht
umherschweifenden Jungen, sondern heimatlosen Geistern »etwas
Schönes« gab.
»Mann!« flüsterten die Jungen.
»Verirrt euch nicht im Dunkeln«, sangen Stimmen in den Häusern zum
Klang von Harfen und Lauten. »Geliebte Tote, kommt heim, seid
willkommen. Die Finsternis kam und hat euch genommen. Ihr sollt
nicht ruhe- und rastlos sein. O kommt doch, ihr Lieben, kommt heim,
kommt heim.«
Rauch kräuselte sich über den trüben Lämpchen.
Und die Schatten traten auf die Veranden und berührten ganz leicht
die dargebotenen Speisen.
Und in einem Haus konnten sie sehen, wie eine alte Großvater-Mumie
aus einem Schrank geholt und an den Ehrenplatz am Kopf der Tafel
gesetzt wurde, wo man ihr etwas zu essen anbot. Und die anderen
Familienmitglieder setzten sich ebenfalls und aßen zu Abend und
hoben die Gläser und tranken auf den Toten, der dort saß, ganz
Staub und trockene Stille …